Oder: Ermöglichungen oder Behinderungen zwischen menschlichen Sinnen und App-Technologie
Workshop auf der GfM-Tagung, 07.10.2017, 9:30-11:00, Universität Erlangen
In Zeiten der Digitalisierung sind elektronische Geräte keine reinen Unterhaltungsmedien mehr, sondern fungieren auch als Bildungs- und Unterstützungstechnologie „for those with significant vision, […] hearing, mobility, language and communication or learning needs“ (Microsoft Accessibility 2017). Der verbreitete Begriff der ‘assistiven’ Technologie (Roulstone 2016) erweckt aber den Eindruck, es handele sich um ‚neutrale‘ Normalisierungsakteure. Er verstellt den Blick auf die zu untersuchenden technosituativen App-Praktiken der Ermöglichung oder Behinderung (Schillmeier 2014). Aus strategischen Gründen gehen wir daher von einer „considerable asymmetry […] between agencies“ (Callon 2005), einer Asymmetrie zwischen Makroakteuren wie der aktuellen App-Kultur (Gardner/Davies) und einer zur Minderheit erklärten Gruppe von Menschen mit sensorischen Behinderungen aus. Damit schaffen wir einen analytischen Rahmen, innerhalb dessen wir Beziehungen von In- und Exklusion, von Zugänglichkeit oder Verhinderung desselben sowie verschiedene Modi der (Nicht-)Teilhabe zwischen den heterogenen Akteuren untersuchen können. Als operatives Element jenseits einer Unterscheidung zwischen aktiv und passiv geraten Termini wie “attachement” (Hennion 2010) oder “dis/ability” (Maskos 2015) zu relationalen Momenten, die gleichermaßen Prozesse des Affizierens wie des Affiziert-Werdens, des Vermittelns wie des Vermittelt-Werdens zwischen ‚assistiven‘ Apps, UserInnen und ihren Ökologien beschreibbar machen. Im Versuch einer erweiterten Perspektivierung der ethischen und sozialen Implikationen unserer aktuellen App-Kulturen versuchen wir, unsere Lektüren zu verlangsamen und in kosmopolitischer Perspektive die sogenannten „matter of facts“ – z.B. der ‚vorausgesetzte‘ Wille gehörloser Menschen mit der hörenden Welt zu kommunizieren – in situierte „matter[s] of concern open […] to technical device“ (Stengers 2005) zu transformieren, um eine Gegenposition zu Normalisierungsprozessen zu akzentuieren.
References
Binczek, Natalie / Ludwig Jäger / Erika Linz (Hg.) (2013), App-Kultur. Sprache und Literatur, 44, 111.
Bryant, Diane P./Brian R. Bryant (2003): Assistive Technology for People with Disabilities. Boston.
Buchner, Tobias/Pfahl, Lisa/Traue, Boris (2015): „Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner_innen“, in: Zeitschrift für Inklusion-online.net (2), http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/273/256 (Zugriff am 22.1.2017).
Callon, M. (2005): “Why Virtualism paves the way to political impotence. A Reply to Daniel Miller’s critique of The Laws of the Markets”, in: Economic Society. European Electronic Newsletter 6(2) (February), 4-20.
Gardner, Howard / Katie Davies (Hg.) (2013): App culture: The App Generation: How Today’s Youth Navigate Identity, Intimacy, and Imagination in a Digital World, New Haven: Yale University Press.
Hennion, Antoine (2010): „Vous avez dit attachements?“ In: Madeleine Akrich (ed), Débordements: Mélanges offerts à Michel Callon. Paris : Presses des Mines, 2010, http://books.openedition.org/pressesmines/744 (accessed 22.1.2017).
Maskos, Rebecca (2015): „Ableism und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft“, in: Zeitschrift für Inklusion-online.net (2), http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/277/260 (accessed 22.1.2017).
Microsoft Accessibility. Assistive Technology Products, https://www.microsoft.com/enable/at/ (accessed 22.1.2017).
Roulstone, Alan (2016): Disability and Technology, London: Palgrave MacMillan
Schillmeier, Michael (2014): Eventful Bodies. The Cosmopolitics of Illness. London: Routledge.
Stengers, Isabell (2005): “An Ecologies of practices”, in: Cultural Studies Review 11 (1), 183-196.
Stengers, Isabell (2010): Cosmopolitics I. Minneapolis/London: University of Minnesota Press.
Stengers, Isabell (2011): Cosmopolitics II. Minneapolis/London: University of Minnesota Press.
TeilnehmerInnen:
Dr. Jan Müggenburg lehrt am Institut fü Kultur und Ästhetik Digitaler Medien (ICAM) der Leuphana Universität Lüneburg. Er forscht zur Mediengeschichte Digitaler Kulturen, der Kybernetik und der Bionik. Zuletzt von ihm erschienen: »Trickkisten: Heinz von Foerster und der Zauber der Kybernetik«, in: Sebastian Vehlken, Katja Müller-Helle, Jan Müggenburg und Florian Sprenger (Hg.): Trick 17: Mediengeschichten zwischen Zauberkunst und Wissenschaft, Norderstedt: meson press 2016, S. 59–84, »Der Delfin als Medium. Formation und Imagination in John C. Lillys Kommunikationsexperimenten«, in: Claudia Mareis (Hg.): Designing Thinking. Angewandte Imagination und Kreativität um 1960, Paderborn: Fink 2016, S. 185–211; »Clean by Nature. Lebhafte Oberflächen und das holistisch-systemische Erbe der zeitgenössischen Bionik«, in: S. Rieger und C. Lechtermann (Hg.): Das Wissen der Oberfläche: Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, Zürich: Diaphanes 2015, S. 233–252.
Beate Ochsner (TP2) ist Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz und Sprecherin der DFG-Forschergruppe »Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme«. Ihre Forschungsinteressen sind mediale Teilhabeprozesse, die audiovisuelle Produktion von Behinderung, mediale Praktiken des Hörens und Sehens sowie Film als Experimentalsystem. Sie ist Mitherausgeberin des Themenhefts »Objekte medialer Teilhabe« AugenBlick 58 (2013). Mit Anna Grebe hat sie Andere Bilder: Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur (2013) herausgegeben. Zu rezenten Veröffentlichungen zählen »Human, Non-Human, and Beyond: Cochlear Implants in Socio-Technological Environments«, in: NanoEthics 9.3 (2015, zus. mit R. Stock and M. Spöhrer); »Das Hören des Cochlea-Implantats«, Historische Anthropologie 22.3 (2014, zus. mit R. Stock) und »Documenting Neuropolitics: Cochlear-Implant-Activation-Videos«, in: C. Brylla/H. Hughes Documentary and Disability, London (im Erscheinen).
Markus Spöhrer (TP2) arbeitet als Postdoktorand des DFG-Projekts «Mediale Teilhabe» (Konstanz) im Teilprojekt «Recht auf Mitsprache: Das Cochlea-Implantat und die Zumutungen des Hörens». Seine Lehr- und Forschungsbereiche sind: Film- und Medientheorie, 3D-Filme, Kulturen des Cochlea Implantats, deutscher Gegenwartsfilm, E-Learning und Science and Technology Studies. Er ist Herausgeber von Die ästhetisch-narrativen Dimensionen des 3D-Films. Neue Perspektiven der Stereoskopie (2016) und Mitherausgeber von Applying the actor-network theory in media studies (2016). Zu seinen Veröffentlichungen zählen zudem „Wie ich zum Cyborg wurde“. Das Cochlea Implantat und die Übersetzungen des transhumanen Körpers, Bodypolitics 2 (2016) und (2015) The Cochlear Implant Between Restoring and Transcending Humanness: The Cases of Michael Chorost and Enno Park, Comunicazioni sociali 3 (2015).
Robert Stock (TP2) ist Koordinator der DFG-Forschergruppe »Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme« an der Universität Konstanz. Seine Forschungsinteressen sind die Kulturtechniken und mediale Praktiken des Hörens und Sehens, die filmische Produktion von Behinderung sowie haptisches Feedback und haptische Medientechnologien. Er ist Mitherausgeber von ReClaiming Participation. Technology – Mediation – Collectivity, Bielefeld 2016. Zu seinen Veröffentlichungen zählen »Körper im/als Schaltkreis. DIY-Apparaturen und audiovisuelle Praktiken sinnlicher Wahrnehmung«, in: Adam, Marie-Hélène/Gellai, Szilvia/Knifka, Julia (Hg.): Technisierte Lebenswelt. Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik, Bielefeld 2016 sowie »Singing altogether now. Unsettling images of disability and experimental filmic practices«, in: Catalin Brylla/Helen Hughes (Hg.): Documentary and Disability, London (im Erscheinen).
Axel Volmar ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB Medien der Kooperation an der Universität Siegen im Teilprojekt A01 Geschichte digital-vernetzter Medien zwischen Spezialisierung und Universalisierung, das Videokonferenzmedien sowie die kooperative Verfertigung von Multimedia-Standards zur Übertragung von Bild-, Ton- und Bewegtbild-Formaten über digital vernetzte Systeme untersucht. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien- und Infrastrukturgeschichte, Wissenschafts- und Technikgeschichte, Digitale Kultur, Medien und Zeitlichkeit, Geschichte audiovisueller Telekommunikation sowie Auditive Kultur und Sound Studies. Er ist Autor von Klang-Experimente. Die auditive Kultur der Naturwissenschaften 1761–1961 (2015) und Mitherausgeber von Von akustischen Medien zur auditiven Kultur. Zum Verhältnis von Medienwissenschaft und Sound Studies“. Special Issue Navigationen 15,2 (2015) sowie Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung (2013).
Andreas Wagenknecht, M.A. ist seit November 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg „Locating Media“ der Universität Siegen mit einer Promotionsforschung zu Medienpraktiken von Menschen mit Behinderungen mit dem Titel “Die Medien der Behinderung. Ethnographische Studien zu Ko-Konstitution von Medien und Behinderung in sozialen Praktiken”. 2009-2012: Studium der Sozialwissenschaften und Philosophie mit dem Kernfach Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig; 2013-2015: Studium der Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt/M.