Vortrag von Isabell Otto (Konstanz, TP 3)
17. Dezember 2019
18:15 Uhr
Raum E2.339
in der Ringvorlesung
Medien | Utopien
Utopien wie Dystopien haben gemeinsam, die Gesellschaft der Gegenwart zu beobachten und Alternativen zu entwickeln. Dabei handelt es sich immer auch um Erzählungen über Zukünfte, deren Ausgestaltung in konkreten Medienformaten erfolgt. Medien fungieren hierbei nicht nur als maßgeblicher Träger dieser Narrative, sondern dienen wiederkehrend selbst als „Wunschkonstellationen“ (H. Winkler), wie sich an zahlreichen utopisch konnotierten Diskursen beim Auftreten von neuen Medien ablesen lässt.
Institut für Medienwissenschaften
Fakultät für Kulturwissenschaften
Universität Paderborn
Organisiert von Michel Diester, Christian Schulz und Serjoscha Wiemer
Abstract
Die Rede von einer Veränderung der Zeit durch digitale Technologien ist selbst der Zeit unterworfen. Das wird besonders deutlich, wenn wir die visionären Beschreibungen des frühen Internets in den Blick nehmen, die sich deutlich von den Diagnosen unserer gegenwärtigen medientechnischen und temporalen Konstellation unterscheiden: In den Utopien und Zukunftsvisionen des Internets finden sich Entwürfe einer durch digitale Vernetzung neu hervorgebrachten Temporalität, die sich abseits von allen sozialen, politischen und ökonomischen Ordnungsstrukturen entfalten könne – in einer Welt jenseits des Bildschirms. In diesem Sinne teils euphorisch, teils apokalyptisch anmutende Beschreibungen einer anderen Zeitordnung des Internets lassen sich etwa in den essayistischen Schriften der Medienphilosophen Vilém Flusser und Pierre Lévy, in den frühen internetkritischen Texten des Medienwissenschaftlers und -aktivisten Geert Lovink, aber auch in Manuel Castells soziologischer Analyse einer sich herausbildenden Netzwerkgesellschaft nachlesen. Das Argument beschränkt sich nicht auf den Diskurs der 1980er bzw. 90er Jahre, es ist auch in späteren Analysen der Network Time noch anzutreffen. Diese Utopien des Internets priorisieren räumliche Analysemodelle. Zwar ist von Zeit die Rede, leitend für die frühen Internetbeschreibungen ist jedoch die Metapher des Cyberspace. Filmische Darstellungen wie Tron aus dem Jahr 1982 geben dieser räumlichen Figuration ein eindrückliches Bild. Die konstatierte wilde Mixtur der befreiten bzw. ungeordneten Temporalitäten vollzieht sich in einer klar abgegrenzten Blackbox. Es ist, in den Begriffen Michel Foucaults formuliert, erst der als ‚andere Ort‘ entworfene Cyberspace, der die Emergenz einer ‚anderen Zeit‘, die Heterochronie der digital vernetzen Temporalitäten ermöglicht. Lektürevorschlag: Hassan, Robert (2007): Network Time. In: ders./Ronald E. Purser (Hg.): 24|7. Time and Temporality in the Network Society, Stanford, CA, S. 37–61.